Am 27. Januar 1996 wurde zum ersten Mal der „Tag des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus“ begangen. Erstmals, als ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag.
Dieser war kurz zuvor durch Proklamation des damaligen und erst kürzlich verstorbenen
Bundespräsidenten Roman Herzog implementiert worden. Allerdings, so muss man ehrlicherweise
zugeben, war dies an uns Oberstufenschülern vorbeigegangen. Zwar wunderte man sich über die
Fahnen, die mit Trauerflor auf Halbmast hingen, jedoch wurde dieser Gedanke am frühen Morgen
nicht weiter vertieft. Tatsächlich spielte der Gedenktag auch ansonsten keine Rolle im Schulalltag
dieses 27. Januars 1996. Jedoch passierte dann etwas, was viele von uns nachhaltig berührt hat.
Irgendwann an diesem Schultag hatten einige von uns (12.Klasse) Chemieunterricht bei Herrn
Rösner. Sein ausgeglichenes, freundliches Wesen machte ihn zu einem beliebten Latein- und
Chemielehrer und wir erwarteten an diesem Vormittag ein neues Experiment von ihm. Doch es kam
anders…
Nachdem unser Kurs an den Experimentiertischen Platz genommen hatte, erklärte er uns, dass heute
ein ganz besonderer Gedenktag sei und dass er diesen Tag für sehr wertvoll erachte und er wolle uns
auch erklären, warum dies so sei. Und dann begann er zu erzählen, von seiner Flucht als 7jähriger
Junge, von seinen Erlebnissen in der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte. Von Gefangenen,
die von SS-Schergen unter Peitschenhieben durch die Straßen getrieben wurden, von Leichen in
Gefangenenkleidung am Straßenrand. Immer wieder musste er den Raum verlassen um in der
Chemiesammlung die Fassung wieder zu erlangen. Im Raum herrschte derweil eine absolute Stille.
Insbesondere ein Bild, so berichtete er, ließ ihn seit seinem damals siebten Lebensjahr nicht mehr
los. Das Bild eines hingerichteten Häftlings, dessen Leiche im Straßengraben saß und dessen
Schädeldecke, wohl durch eine Schussverletzung so geöffnet worden war, dass die Hirnmasse
sichtbar daraus herausquoll. Stockend berichtete er, dass sich an diesem Schädel eine Krähe labte
und dieses Bild für ihn die ganze Grausamkeit und Unmenschlichkeit dieser Zeit symbolisierte.
Er schilderte uns, dass er aufgrund dieser Erlebnisse eine Erinnerung an die Opfer des
Nationalsozialismus für zwingend erachte, gerade für die Generationen, die schon sehr bald
niemanden mehr „aus dieser Zeit“ persönlich kennen würden. Wie wir heute wissen, eine sehr weise
Voraussicht.
Nach der Stunde bin ich noch im Raum geblieben und habe ihm für seine Offenheit und seinen Mut
zur Authentizität gedankt. Diese Stunde blieb der einprägsamste Moment meiner Schulzeit und jedes
Jahr am 27. Januar bin ich in Gedanken wieder dort. Heute, ich bin inzwischen selbst Studienrat, ist
mir diese ungewöhnliche Chemiestunde alljährlich Vorbild für ein authentisches Statement für den
Wert unserer Demokratie sowie des Friedens, den wir seitdem auf unserem Fleckchen Erde
geschenkt bekommen haben.